Urteil im Fall Jessica Der Tag der vergessenen Kinder

Von Shila Behjat
Für den Mord an ihrer Tochter müssen die Eltern der verhungerten Jessica lebenslänglich ins Gefängnis. Die Richter am Landgericht Hamburg versuchten in der Urteilsbegründung die unfassbare Grausamkeit des Paares in Worte zu fassen.

In den letzten Tagen ihres Lebens hatte Jessica die Hände einer Dreijährigen und kommunizierte nur noch mit Lauten wie "bäh, bäh bäh." Sie hatte schon längst verlernt zu laufen, zu sprechen und eigenständig auf die Toilette zu gehen. Deshalb trug sie Windeln. Mit knapp acht Jahren. An ihrem Todestag, dem 1. März 2005, hatte sie bei einer Größe von 1,05 Metern - sie war damit kleiner als 97 Prozent der Mädchen gleichen Alters - ein Körpergewicht von 9,6 Kilogramm. Davon waren fast zehn Gramm Kotsteine in ihrem von Krämpfen gequälten Körper. Sie war an ihrem eigenen Erbrochenen erstickt. Die Fähigkeit der Nahrungsaufnahme und -verarbeitung hatte ihr Körper längst aufgegeben.

Knapp drei Monate nach Prozessbeginn endet der "Fall Jessica" - zumindest vor dem Landgericht Hamburg. Das Urteil für die Eltern lautet: lebenslänglich. Bevor es bekannt gegeben wird, stehen vor dem Gebäude keine Menschenmengen, es gibt keine Gruppen von Demonstranten; es ist still. Vielleicht liegt es an dem schlechten Wetter, denn der erste Schnee des Jahres ist gefallen. Nur zwei Jugendliche halten ein Pappschild in die Höhe, darauf die Aufschrift "Heute: Gerechtigkeit Jessica". Und darunter haben die "Protestanten", wie sie sich gegenüber stern.de bezeichnen, ein Smiley gezeichnet. "Das ist, weil wir uns freuen, dass die Eltern bestraft werden. Beide lebenslänglich, das wollen wir."

Vernachlässigte Kinder beherrschen die Diskussion

Das Verhältnis von Presse und Zuschauer im Gericht ist unausgewogen. Vereinzelt schlängeln sich die Männer und Frauen durch Kameras und Blitzlichter. Sie wehren Mikrophone ab und huschen in den Saal 237. "Ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke, was die getan haben", sagt eine Frau stern.de. Sie sei gekommen, weil man doch die Kinder schützen müsse. Es werden auch andere Namen genannt. Wie ein Echo hallen die Namen "Jessica", "Michelle" und "Pascal" durch den Raum. Es geht um sie alle und um das Versagen der Eltern, des Staates und auch einer Gesellschaft, in der Kinder weggeschlossen werden können und niemand sich darüber wundert. Es geht um eine Gesellschaft, in der Kinder verhungern und verdursten, während die Eltern sich mit Bekannten an der Imbissbude treffen. "Man will versuchen es zu verstehen, aber es gelingt doch nicht." Die SPD-Politikerin Britta Ernst ist Vorsitzende des Bürgerschaftsausschusses "Vernachlässigte Kinder". Weitere Fragen will sie nicht beantworten.

Jessica soll, beginnt der Vorsitzende Richter Gerhard Schaberg, ein fröhliches, normales Kind gewesen sein. Der Mann in der schwarzen Robe wirkt selbst erschüttert, immer wieder blickt er bei der einstündigen Urteilsbegründung auf die Angeklagten. Die Frau in der schwarzen Jacke mit grauem Kapuzenpullover sitzt ihm gegenüber. Sie stützt ihren Kopf in die Hände und starrt mit gesenktem Blick auf den Tisch vor sich. Nur ein einziges Mal blickt sie auf. Sie muss aufstehen, als das Schwurgericht den Saal betritt und dann ihre lebenslange Haft wegen Mordes und Misshandlung Schutzbefohlener verkündet. Ihr Mann sitzt auf der Anklagebank und wendet den Richtern die gesamte Zeit über lediglich das Profil zu. Er blickt starr geradeaus in Richtung Fenster. Gegen Ende der Sitzung wendet er den Blick zur Seite – in den Zuschauerraum.

"Die Zustände in Jessicas Zimmer wären in einem deutschen Gefängnis niemals möglich". Richter Schaberg verliest den Leidensweg Jessicas mit lauter Stimme. Wie das Schicksal des Mädchens sich wendete, als die Angeklagten nach Jenfeld zogen, wie es damit begann, dass Jessica eingesperrt wurde und nichts zu essen bekam. Der Richter berichtet, dass ihre Kleidung mit einem Draht an ihren Körper fixiert war, damit sie sich nicht selbst ausziehen konnte. Nur mit Hilfe einer Zange konnte sie aus der Kleidung befreit werden. Schaberg zeichnet nach, wie sie nach und nach verkümmerte. Er berichtet von dem unfassbaren Verhalten der Eltern, die juristisch mit ihrer Tat das Mordmerkmal der Grausamkeit erfüllten. Tatsächlich leugnete die Mutter ihr Kind vor Bekannten, ließ sie über lange Zeiträume eingesperrt in ihrem Zimmer allein in der Wohnung und bezeichnete ihren Zustand schließlich einem Zeugen gegenüber als "nicht vorzeigbar".

Fadenscheinige Begründungen

Dass die Frau bei Gericht voll geständig war, stimmte das Gericht in keinster Weise milder. Die Angeklagte habe, so Schaberg, trotz den Geständnisses versucht, das Leiden des Kindes zu verbergen, so wie sie früher Bekannte daran gehindert hatte, Jessica zu Gesicht zu bekommen. Zudem brachten die Angeklagten gemeinsam die "Stromfalle" in Jessicas Zimmer an: Ein Kabel, 16 Zentimeter aus der Wand herausragend und unter Strom. Die Frau habe versucht, fadenscheinige Erklärungen dafür abzugeben. Etwa, dass es Jessica gewesen sein soll, die "immer den Deckel abgerissen habe". Wie jedoch, so die Richter, soll ein derart geschwächtes Kind ein dickes Kabel aus der Wand ziehen und warum war die Abdeckung dann nirgends in Jessicas Zimmer aufzufinden?

Ähnliche Erklärungsversuche häuften sich während der Verhandlung und ihnen allen schenkte das Gericht keinen Glauben, konnte es nicht, weil die Aussagen so schnell zu widerlegen waren. Die Mutter will Angst vor einem Arzt gehabt haben und war deshalb nie mit dem Mädchen zu schulischen Untersuchungen gegangen. Sogar ein Bußgeld habe sie dafür in Kauf genommen. Als ihr Lebensgefährte jedoch im Krankenhaus war, besuchte sie ihn häufig.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Nachdem sie festgestellt hatte, dass ihrer Aussage vor Gericht kein Glauben geschenkt wurde, schrieb sie ihrem Mann, der ebenfalls in Untersuchungshaft saß, einen Brief, in dem sie sagte, sie habe etwas falsch gemacht und sich verraten. Das Schreiben wurde vor Gericht verlesen. "Ebenso wie die Angeklagten das Recht haben, die Tat zu leugnen oder zu schweigen, wie es der Vater Jessicas gemacht hat, so hat das Gericht das Recht, den Angeklagten nicht zu glauben", so der Vorsitzende Richter.

Die Katze fraß, das Kind musste hungern

Der Vater habe einen phlegmatischer Charakter und leide unter einem extremen Mangel an emotionaler Beeindruckbarkeit und sei nicht zu mehr als einem "blassen Verhältnis" zu anderen Menschen fähig. Sie beide, Mutter wie Vater hatten selbst keine schöne Kindheit, wurden misshandelt, gedemütigt. Auch ihnen blieb die elterliche Liebe verwehrt. Dennoch, so Schaberg: "Die Katze bekam zu essen, Jessica verhungerte. Die Katze konnte sich frei bewegen, Jessica war eingesperrt. Das war den Angeklagten bewusst und sie nahmen es in Kauf." Die Katze war beim Umzug nach Jenfeld gekauft worden. Von ihr wurden unzählige Fotos gemacht. Von Jessica existieren dagegen keine Bilder aus der neuen Wohnung, weil, so die Erklärung der Eltern", die Kamera kaputt gegangen sei.

So leicht zu widerlegen sind diese Aussagen und so sehr fehlen andere Erklärungen für das Unfassbare, dass der Sachverständige Leygraf nur die Worte fand: "Es ist hinzunehmen, dass die Tat sich eben genauso ereignet hat." Die von der Verteidigung ins Feld geführte verminderte Schuldfähigkeit führte bei Jessicas Vater nicht dazu, dass eine verminderte Schuld ins Gewicht fiel. Der Mann hat sich an der Schule, bei der er als Maler beschäftigt gewesen war, frei genommen mit der Begründung, er müsse seine Tochter von der Schule abholen. Der gleiche Mensch beschreibt Jessicas Zustand beim Tod als identisch mit dem der letzten Wochen davor. Sie siechte bei vollem Bewusstsein dahin.

Nach der Urteilsverkündung geht es Britta Ernst genauso wie vielen anderen. Sie verlässt das Gericht, ohne auf die wartenden Mikrophone zu achten, die sich vor der Tür aufgebaut haben. An den Stufen zur Strafe warten die beiden Jugendlichen wieder mit der Pappe und sind sichtlich erfreut – immer noch. Das Gericht, so klingt Schaberg nach, sei nicht dazu da, ein Behördenversagen festzustellen. Jedoch ließ er in der Begründung häufig den Halbsatz "…wenn man hingucken wollte" fallen.